Gedenktext Brigitte Schnegg (1953-2014)

Vision, Neugierde und Eigensinn

Ein Gedenktext an die erste Leiterin des IZFG, Prof. Dr. Brigitte Schnegg, zum zehnten Todestag.

von Christa Binswanger, Lilian Fankhauser und Monika Hofmann

Bern, 29. März 2024

Brigittes Begeisterung – oder wie alles begann

Brigitte Schnegg wurde 2001 als Leiterin des neu gegründeten Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung (IZFG) der Universität Bern eingesetzt. Das IZFG gehörte damals zusammen mit der Einrichtung des Lehrstuhls von Andrea Maihofer an der Universität Basel zu den ersten Schweizer Zentren für Geschlechterforschung. Den Einfall dazu hatte die Weggefährtin von Brigitte Schnegg, Barbara Lischetti, die damalige Gleichstellungsbeauftragte der Universität Bern. Sie überzeugte mit der Unterstützung verbündeter Professorinnen die Universitätsleitung davon, die «Kopfprämien», die die Universität für jede neu berufene Professorin vom Bund bekam, in die institutionelle Verankerung des IZFG zu investieren. Das IZFG war von Beginn an als gesamtuniversitäre Einheit mit einer innovativen interdisziplinären Ausrichtung konzipiert – und ist bis heute als interdisziplinäres Forschungszentrum ein fester Bestandteil der Universität Bern. Das «Zentrum» startete 2001 mit einer Leitungsstelle und einer Teilzeit-Sekretariatsstelle – besetzt durch Brigitte Schnegg und Lilian Fankhauser – und war mit einem winzigen Büro und minimalen finanziellen Ressourcen ausgestattet. Mit unbeschreiblichem Engagement und beachtlichem strategischem Talent trieb Brigitte ihre grosse Vision voran: Ein Kompetenzzentrum für Frauen- und Geschlechterforschung aufzubauen, mit Lehrangeboten für Studierende und Doktorierende, und vor allem natürlich mit einem Forschungsoutput, der einen Beitrag zur Transformation der Geschlechterverhältnisse in unserer Gesellschaft leisten würde. Aus dieser Vision resultierten diverse Projekte und Kooperationen, die das IZFG in den ersten 13 Jahren unter ihrer Leitung aufbaute. Zum anfänglichen Zweier-Team gesellten sich bald weitere Kolleg*innen, so auch Christa Binswanger, welche die Leitung des interdisziplinären Graduiertenkollegs übernahm. Der Aufbau des Master Minors in Gender Studies auf Masterstufe war der nächste Streich, der Brigitte und dem Beirat des IZFG gelang. Als Dozentin für Geschichte lag ihr die Lehre besonders am Herzen – ebenso wie die Geschlechterforschung auf nationaler Ebene. So engagierte sie sich für Forschungsgelder im Bereich der Frauen- und Geschlechtergeschichte und baute zusammen mit Kolleg*innen der Gender Studies das Netzwerk Gender Studies Schweiz auf. Ein wichtiger Zweig des IZFG war zudem von Beginn an die Mandatsforschung. Geschickt etablierte Brigitte ihr Netzwerk in «Bundesbern», bot die Expertise des IZFG an und legte den Grundstein für eine jahrelange Zusammenarbeit mit der DEZA und anderen Institutionen im Bereich «Gender and Development», aus der auch ein Nachdiplomstudiengang resultierte.

In diesen ersten Jahren, dieser Pionierinnenzeit, hat Brigitte zusammen mit dem kleinen Team, dem interdisziplinären wissenschaftlichen Beirat und einem stabilen nationalen Netzwerk den Grundstein des heutigen IZFG gelegt. Diese Jahre waren geprägt von Brigittes Kampfgeist und von ihrer Fähigkeit, die Menschen um sich herum zu begeistern und anzuspornen. Das Arbeitsumfeld knisterte vor Engagement und die gemeinsamen Mittagessen mit den Mitarbeitenden und Doktorierenden bleiben in ihrem fast schon familiären Rahmen bis heute als einzigartig in Erinnerung.

Keine Angst vor Eigensinn

Im Jahr 2003 stiess Christa Binswanger als Koordinatorin des Graduiertenkollegs Gender Studies zum IZFG-Team dazu. Die Gender-Graduiertenkollegs dienten damals der Institutionalisierung der Geschlechterforschung an den Schweizer Universitäten. Bereits das erste Kolleg, das 2002 im Rahmen der Bundesgelder zur Institutionalisierung der Geschlechterforschung in der Schweiz durchgeführt wurde, setzte sich aus einer engagierten Gruppe Doktorierender zusammen, die von Brigitte und dem Beirat sorgfältig ausgewählt worden waren. Das Kolleg begleitete diese Gruppe im wissenschaftlichen Prozess der Erarbeitung ihrer Doktorarbeiten. Das Programm war intensiv, die zur Verfügung stehenden Mittel wurden neben Stipendien dafür eingesetzt, den sehr unterschiedlichen disziplinären Perspektiven eine möglichst gute theoretische Einbettung in die Geschlechterforschung zu bieten, Expert*innen einzuladen und dabei auch den Schreibprozess und das Peer-Feedback der Gruppe zu fördern. Brigittes exzellente Vernetzung im Feld der Geschlechterforschung ermöglichte die Gestaltung eines hochkarätigen Programms für die Graduierten. Auch der Beirat des IZFG arbeitete sehr engagiert mit. Brigitte besass die höchst beeindruckende Begabung, sich auf unterschiedliche Denkweisen und Fragestellungen einzulassen, ein kluges, konstruktives Feedback zu geben und auch strategische Überlegungen in einen Forschungsprozess einzubringen. Sie brachte eine grosse Begeisterungsfähigkeit für die Themen der jungen Forscher*innen mit, liess sich sehr verbindlich auf die verschiedenen Themen der Doktorierenden ein und hatte auch immer ein offenes Ohr für persönliche Belange. Sie setzte mit dem Graduiertenkolleg ein Zeichen dafür, dass die Doktoratsbetreuung an den Universitäten verbessert werden sollte und konnte – damals war die systematische Einbindung Doktorierender in eine Programmstruktur noch die Ausnahme. Das IZFG leistete hier Pionierinnenarbeit. Dass überproportional viele weibliche Doktorierende am ersten wie auch an den nachfolgenden Kollegs teilnahmen, hat sich im Nachhinein als eine effektive – wenn auch nicht unbedingt so geplante – Massnahme der Frauenförderung auf Stufe Doktorat entpuppt. Die grosse Mehrheit der Teilnehmenden konnte sich später etablieren – an Universitäten, Fachhochschulen oder auch in der Politikberatung. Die Forschungstätigkeiten der Doktorierenden am IZFG wurden schweizweit zu einem wesentlichen Element des Wissensaufbaus der Gender Studies. Die Doktorierenden und ihre betreuenden Beiratsmitglieder förderten die inhaltliche Vernetzung in verschiedene Fachbereiche, den interdisziplinären Austausch und den Kompetenzerwerb der interdisziplinären Kommunikation. Brigitte hat die Forschenden dabei immer unterstützt, auch dem Eigensinn der Akteur*innen, die beforscht wurden, Aufmerksamkeit zu schenken und unerwartete Ergebnisse wertzuschätzen, aus ihnen zu lernen und so die eigenen Denkmuster reflexiv zu öffnen. Die intersektionale Verbindung von unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionierungen zu reflektieren wie auch die Fähigkeit, über eigene disziplinäre Grenzen zuzuhören und sich verständlich zu machen, sind Kompetenzen, die Brigitte vielen mit auf den Weg gegeben hat.

Die Vision lebt weiter

Nach dem plötzlichen Tod von Brigitte Schnegg am 29. März 2014 war nicht nur die Führung, sondern auch die inhaltliche Ausrichtung des IZFG ungewiss. Doch die Universitätsleitung – namentlich Doris Wastl-Walter als Vizerektorin – setzte sich dezidiert dafür ein, dass die thematischen, theoretischen und methodischen Schwerpunkte des IZFG in der ganzen Breite, wie sie Brigitte Schnegg aufgebaut hatte, weitergeführt wurden. So wurden schliesslich Michèle Amacker und Patricia Purtschert als neues Leitungsduo gewählt und übernahmen im Februar 2016 die Co-Leitung des Zentrums. Heute, zehn Jahre nach dem Tod von Brigitte, arbeiten am IZFG über 40 Mitarbeitende, die mit ihren sehr unterschiedlichen disziplinären Hintergründen die Interdisziplinarität am IZFG abbilden. Das Zentrum engagiert sich immer noch stark in der Lehre – im Doktoratsprogramm sind momentan 44 Teilnehmende angemeldet –, und der Forschungsbereich setzt sich weiterhin aus Grundlagen- und Mandatsforschung zusammen. Die Vision Brigittes, dass das IZFG Forschungs-Outputs leistet, die zur Transformation der Geschlechterverhältnisse in unserer Gesellschaft beitragen oder diese Transformation historisch beleuchten, ist auch unter der neuen Leitung bis heute in diversen Projekten spürbar: So zum Beispiel im SNF-Projekt «Ein gemeinsamer Raum – Unerzählte Schweizer Frauengeschichte(n)», welches die Zugänge von Frauen zu historisch männlich besetzten Räumen erforscht. Oder auch im Forschungs- und Wissenstransferprojekt «SOGUS – Sexuelle Orientierung Geschlecht und Schule», in dem das Wohlbefinden von LGBTQ+ Jugendlichen in Deutschschweizer Schulen erforscht wurde und nun im Praxisteil niederschwellige und kostenlose Schulmaterialien aufbereitet werden. Dieser Fokus auf den Wissenstransfer, der kritisches Wissen wieder in die Gesellschaft zurück kommuniziert, ist ein Erbe von Brigitte Schnegg und wird bis heute am IZFG gepflegt. So hatte Brigitte den Einfall für die App «Women's Human Rights», die gemeinsam mit dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) realisiert wurde, bis heute am IZFG angesiedelt ist und laufend inhaltlich erweitert wird. Das Flair und die Neugierde für Neues und Unbekanntes sowie die Technikaffinität von Brigitte führten zur Idee eines Serious Games, eines elektronischen Lernspiels, im Feld der gender-sensiblen Berufsorientierung für Jugendliche. Nach Brigittes Tod hat ein Team um Monika Hofmann diese Idee weiterverfolgt, das Projekt «like2be» realisiert und kürzlich mit der Finanzhilfe des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Mann und Frau (EBG) das elektronische Lernspiel wie auch das didaktische Begleitmaterial überarbeitet. Um mit den Worten Brigittes aus einem Interview von 2013 zu enden: «Der Wissenstransfer in die Öffentlichkeit respektive der Dialog mit der Zivilgesellschaft waren und sind uns ein grosses Anliegen.»

 

Autorinnen

Christa Binswanger koordinierte von 2003 bis 2009 zwei Graduiertenkollegs am IZFG. Heute ist sie Professorin und ständige Dozentin an der Universität St. Gallen und Leiterin des Fachbereichs Gender und Diversity sowie Co-Präsidentin des Think Tank «Gender & Diversity».

Lilian Fankhauser war von 2001 bis 2013 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am IZFG tätig. Danach leitete sie zusammen mit Claudia Willen die Abteilung für Chancengleichheit an der Universität Bern und seit kurzem ist sie Leiterin der Beratungsstelle Opferhilfe im Kanton Solothurn.

Monika Hofmann war von 2008 bis 2012 Hilfsassistentin von Brigitte Schnegg und Lilian Fankhauser und arbeitet seit 2013 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am IZFG in den Bereichen Lehre, Forschung, Wissenstransfer und Öffentlichkeitsarbeit.